Digitale Medien im Unterricht
Wir haben ein spannendes Interview mit Frau Dr. PH. Annette Becker über das Lernen und Lehren in der digitalen Welt geführt. Dabei beschreibt sie das neue Spannungsfeld in der therapeutischen Ausbildung zwischen den Lehrenden, die noch traditionell gelernt haben, und den jetzt „digitalen“ Schülern. Sie informiert über die vermeintlichen Stärken und Schwächen der nachrückenden digitalen Generationen Y und Z und reflektiert die Folgerungen daraus für die Gestaltung kompetenzorientierten Unterrichtes.
Frau Dr. PH. Annette Becker ist gelernte Physiotherapeutin sowie Lehrerin und besitzt langjährige Schulleitungs- und Unterrichtserfahrung. Sie arbeitet freiberuflich selbstständig als Supervisorin, Coachin und Organisationsberaterin im Gesundheitsbereich und bietet pädagogische kompetenzorientierte Fortbildungen für Lehrende in den Gesundheitsfachberufen an.
Thieme: Welche Chancen und Risiken sehen Lehrer für sich beim Einsatz von digitalen Medien?
Becker: Das ist eine sehr komplexe Frage. Grundsätzlich ist erst einmal festzustellen, dass der Einsatz von digitalen Medien noch nicht so selbstverständlich ist wie man vielleicht meint. Es gibt häufig noch Lehrende z. B. an Schulen für Physiotherapie, die nicht auf eine breite Grundlage digitaler Medien in der Schule zurückgreifen können. Oftmals ist ein Raum mit PCs ausgestattet, das ist dann schon alles.
Nicht selten ist im Unterricht auch nur der Einsatz der schülereigenen Smartphones/Tablets möglich, die darüber hinaus nicht bei allen in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Durch solche Rahmenbedingungen ist die Motivation der Lehrenden, sich mit den Medien und der entsprechenden Software zu beschäftigen, häufig gering. Sie können die digitalen Medien auf dieser Basis nicht zielführend einsetzen und beschäftigen sich somit mit diesem Thema erst gar nicht. Im Vergleich dazu ist allerdings anzunehmen, dass die digitale Infrastruktur an Hochschulen (z. B. im Rahmen eines primärqualifizierenden Studiengangs Physiotherapie) eine bessere ist und der Einsatz digitaler Medien dort selbstverständlicher für Lehrende ist, als an Schulen im Gesundheitswesen.
Der Einsatz von digitalen Medien bzw. die Nutzung digitaler Hilfsmittel wie Lernplattformen, Internetvideos, Podcasts oder Apps bietet für den Lehrenden Chancen.
Erst einmal unterstützt der Einsatz digitaler Medien das selbstgesteuerte Lernen im Unterricht, das ja die Basis zur Kompetenzentwicklung bei Lernenden darstellt, was wiederum der Bildungsauftrag der Lehrenden ist. Der Umgang mit Unterrichtsmaterialien sowie die Unterrichtsmethodik (Erarbeitung von Unterrichtsinhalten, deren Präsentationen, Nutzung von Apps) kann variabler gestaltet werden. Das macht den Unterricht für alle Beteiligten oftmals interessanter. Für bestimmte Lehrinhalte stellt der Einsatz digitaler Medien eine optimalere Unterrichtsmethodik dar. Außerdem kann sich der Lehrende, je nach Unterrichtsinhalt, freie Ressourcen (Zeit) schaffen, z. B. durch das schnellere sowie umfangreichere Finden von Informationen auf digitalem Weg oder das selbstgesteuerte digitale Bearbeiten von Aufgabenstellungen durch die Lernenden. Diese gewonnene Zeit kann im weiteren Unterricht gut genutzt werden.
Der Einsatz birgt jedoch auch gewisse Risiken für die Lehrenden, wenn sie selbst keine Erfahrungen mit digitalen Medien sowie digitalen Hilfsmitteln haben und die zur Verfügung stehenden Medien nicht bedienen können, wie z. B. ein Smart Board im Unterricht zu nutzen. Selbst das Herunterladen einer App stellt bei manchen Lehrenden insbesondere der älteren Generation offenbar noch eine Herausforderung dar. Diese Lehrenden gehen beim Einsatz neuer digitaler Technologien das Risiko ein, Misserfolge zu ernten, aus der eigenen Unkenntnis heraus bzw. aufgrund des eigenen Unvermögens im Umgang damit. Dies mag den einen oder anderen abschrecken, digitale Medien im eigenen Unterricht zu nutzen.
Thieme: Welche Kompetenzen benötigen Lehrer um ihren Unterricht mit digitalen Hilfsmitteln zu gestalten?
Becker: Neben dem grundlegenden Wissen, welche digitalen Medien bzw. Hilfsmittel es überhaupt gibt und wie sie einzusetzen sind, benötigen die Lehrenden verschiedene Kompetenzen, z. B.:
- Die digitalen Hilfsmittel im Unterricht selbst praktisch zu bedienen.
- Sie an sinnvollen Stellen im eigenen Unterricht zu platzieren, da nicht jedes digitale Hilfsmittel für jeden Unterrichtsinhalt geeignet ist.
- Die Lernenden an die digitale Mediennutzung und an das digitale Lernen heranzuführen und sie beim digitalen Lernen zu begleiten.
- Lernende mit digitalen Kompetenzen zu aktivieren, um deren Fähigkeiten im Unterricht zielführend mit einzubringen.
Thieme: Wie schaffen es Lehrende, Lernende für das digitale Lernen zu begeistern und mit ihnen zielorientiert zu arbeiten?
Becker: Nach meiner Erfahrung an Schulen in den Gesundheitsfachberufen müssen mancherorts die Lehrenden mehr begeistert werden als die Lernenden. Der Einsatz digitaler Medien im Unterricht bedeutet für den Lehrenden, diese gezielt auf den zu vermittelnden Unterrichtsinhalt abzustimmen. Meistens bedarf es dazu – gerade bei langjährig Lehrenden – einer Überarbeitung und Neustrukturierung des bestehenden Unterrichtsplans sowie der Methodik, was nicht selten großer Zeitaufwand bedeutet.
Die Voraussetzung um die Lernenden zu begeistern liegt meist beim Lehrenden selbst. Folgende Punkte sollte der Lehrende zuvor für sich z. B. geklärt haben:
- Was bedeutet digitales Lernen?
- Welche digitalen Medien und Hilfsmittel unterstützen das Lernen in meinem Unterricht?
- Welche Kompetenzentwicklung wird durch das digitale Hilfsmittel unterstützt?
Nicht alle Lernenden sind per se an digitalem Lernen interessiert. Manche empfinden Lernplattformen als langweilig, weil ihnen z. B. die haptische Komponente fehlt, beim theoretischen Betrachten praktischer Verfahrensweisen Beispiel Händedesinfektion. Im praktischen Unterricht der Gesundheitsfachberufe muss man genau prüfen, wann digitales Lernen zielführend ist.
Ich glaube, wenn die Lehrenden sowie Lernenden den Sinn und Gewinn durch den Einsatz digitaler Hilfsmittel in ihrem Unterricht sehen, sind sie direkt begeistert.
Thieme: Jugendliche sind Digital-Natives, für sie gehört der Umgang mit und die Kommunikation via Smartphones, Tablets etc. ganz selbstverständlich zum Alltag. Ist das Lernen via digitaler Medien für diese Generation denn genauso selbstverständlich oder müssen sie den Umgang damit auch erst lernen?
Becker: Die Lernenden kommen mit unterschiedlichsten Erfahrungen bezüglich digitalen Lernens und dem Einsatz digitaler Medien in die Ausbildung bzw. ins Studium. Die Fähigkeit des Handlings digitaler Medien und Hilfsmittel ist nicht grundsätzlich mit der Fähigkeit gleichzusetzen, diese zum Lernen zu nutzen. Manche Lernende müssen an das Thema digitales Lernen, erst herangeführt werden. Neben z. B. dem Erlernen einer zielführenden Internet-Recherche, der Suche und Auswahl seriöser Quellen, dem Erkennen stimmiger Aussagen sowie ihrer Abgrenzung zu „fake news“ und der Nutzung einer Lernplattform, müssen sie das damit verbundene selbstorganisierte Lernen oft erst lernen.
Thieme: Welchen Vorteil bringt der Einsatz von digitalen Medien dem Schüler?
Becker: Das selbstgesteuerte Lernen mit digitalen Medien dient der persönlichen Kompetenzentwicklung. Jeder Lernende kann individuell, entsprechend seiner eigenen Stärken und Schwächen lernen, flexibel in seiner eigenen Lerngeschwindigkeit. Sie sind dann in der Lage, jederzeit beliebig von jedem internetfähigen Gerät zu agieren und können mit anderen Lernenden in anderer Weise kommunizieren (z. B. Blogs, virtueller Klassenraum). Anderes, z. B. kollaboratives und kooperatives Lernen ist mit diesen Medien einfach machbar.
Der Einsatz digitaler Medien bietet den Lernenden zudem oftmals lustvolleres Lernen. Zum einen können sie dabei ihre bereits bestehenden digitalen Fähigkeiten nutzen. Zum anderen werden die Unterrichtsinhalte in ggf. interessanterer bzw. ansprechenderer Form (z. B. Videos, Podcasts, Abstimmungs-Apps) bearbeitet.
Der Einsatz digitaler Medien bringt aber auch eine große Ablenkungsgefahr mit sich. Geöffnete unterrichtsfremde Fenster (Facebook, YouTube, WhatsApp etc.) laden zur Ablenkung ein. Man hat insbesondere bei den jungen Generationen Y und Z eine Verkürzung der Aufmerksamkeitsschwelle und Reduktion der Konzentrationsfähigkeit festgestellt. Das digitale selbstgesteuerte Lernen kann durch Ablenkung somit stark beeinträchtigt werden.
Thieme: Wie sieht für Sie die Zukunft des Lernens aus und welche Hürden gilt es noch zu meistern?
Becker: Meiner Meinung nach sollte man das Lernen der Zukunft in den Gesundheitsfachberufen als ausgewogen dosierte Mischung zwischen analogem und digitalem Lernen betrachten. Es muss wohl überlegt sein, an welcher Stelle welches digitale Medium zielführend eingesetzt werden kann, insbesondere aufgrund der umfangreichen praktischen Anteile der Ausbildungen in den Gesundheitsfachberufen.
Große Hürden sind die oftmals mangelhafte digitale Infrastruktur und die geringen finanziellen Ressourcen der Ausbildungsinstitutionen. Auch die meist heterogene digitale Ausstattung der Lernenden selbst macht den Einsatz der digitalen Medien im Unterricht momentan vielerorts schwierig.
Außerdem fehlt es oftmals an Fortbildungsangeboten für Lehrende, einerseits über die Vielfalt digitaler Medien und Hilfsmittel für den Unterricht, andererseits über die potentiellen Möglichkeiten, Chancen und Gewinne, die der Einsatz digitaler Medien im eigenen Unterricht mit sich bringt. Bevor man bei Lehrenden digitale Nutzung erwarten kann, sollten sie für sich u. a. folgende Fragestellungen geklärt haben:
- Welche digitalen Medien stehen überhaupt im Bildungsinstitut zur Verfügung?
- Welche Medien/Hilfsmittel sind für meinen eigenen Unterricht zielführend?
- Wo liegt mein persönlicher Benefit? Kann ich sie bedienen?
- An welcher Stelle meines Unterrichtes bringt der Einsatz digitaler Hilfsmittel einen Mehrwert?
- In wieweit darf ich z. B. Selbstlerneinheiten – ohne Präsenz des Lehrenden – in meinen Unterricht einbauen?
- Wie baue ich meinen bisherigen Unterricht um (u. a. Skript, Methodik, Thematik, Kompetenzausrichtung)?
- Wie kann ich dabei die digitalen Kompetenzen der Lernenden nutzen?
Thieme: Vielen Dank für das Interview!
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